V-Waffen

V-Waffen
V-Waf|fen 〈[f-] Pl.〉 im 2. Weltkrieg entwickelte, deutsche selbstgesteuerte Projektile mit Strahl- od. Raketenantrieb [V steht als Abk. für Vergeltung]

* * *

I
V-Waffen,
 
im nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkriegs entwickelte Waffensysteme; eingesetzt zur »Vergeltung« der alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte.
 
Das Gerät V 1 (Entwicklungsbezeichnung Fieseler Fi 103) war eine unbemannte Flugbombe (8,2 m lang, 0,84 m Durchmesser, Startgewicht 2 200 kg, Nutzlast 850 kg Sprengstoff, Geschwindigkeit rd. 650 km/h, Flughöhe bis 3 000 m, Reichweite rd. 300 km) mit einem Staustrahltriebwerk (Argus-Schmidt-Rohr). Die V 1 wurde von einem Katapult gestartet und durch eine Selbststeuerung zum Ziel geführt. Erstflug Dezember 1942, erster Einsatz in der Nacht zum 13. 6. 1944; Monatsproduktion im September 1944 über 3 400 Stück. Von rd. 32 000 gebauten V 1 wurden etwa 10 000 gegen britische Ziele eingesetzt. Davon wurden rd. 40 % von der Flakartillerie beziehungsweise von Jagdflugzeugen abgeschossen. Etwa 12 000 V 1 kamen gegen Ziele in Belgien zum Einsatz.
 
Die V 2 (Entwicklungsbezeichnung A 4) war eine Rakete mit Alkohol-Sauerstoff-Antrieb, die erste Flüssigkeitsgroßrakete der Welt, entwickelt von der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde (14,3 m lang, 1,65 m Durchmesser, Startschub 255 kN, Startgewicht 12 800 kg, Sprengstoff rd. 1 000 kg, Reichweite rd. 300 km, Brennschlussgeschwindigkeit rd. 6 000 km/h). Entwicklungszeit 1937-42, erster erfolgreicher Start 3. 10. 1942, von rd. 6 000 produzierten V 2 kamen etwa 3 000 in der Zeit vom 8. 9. 1944 bis März 1945 zum Einsatz. Beschossen wurden Ziele in England, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und in Deutschland. Eine Bekämpfung der V 2 in der Luft war mit den damaligen Abwehrmitteln nicht möglich.
 
 
J. Engelmann: V 2 - Aufbruch zur Raumfahrt (1985);
 W. Hellmold: Die V 1. Eine Dokumentation (1988);
 W. Dornberger: Peenemünde. Die Gesch. der V-W. (61995);
 
Peenemünde u. seine Erben in Ost u. West. Entwicklung u. Weg dt. Geheimwaffen, Beitrr. v. J. Michels (1997).
II
V-Waffen
 
Die Geschichte der deutschen Raketenforschung ist untrennbar mit der von Wernher von Braun entwickelten Großrakete verbunden, die unter dem Namen V 2 im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde. Aus dieser ersten Großrakete, die ursprünglich für die zivile Weltraumfahrt entwickelt worden war, entstand im Dritten Reich unter Adolf Hitler eine Vergeltungswaffe (V = Vergeltung), die hauptsächlich gegen die britische Hauptstadt London eingesetzt wurde. Im Gegensatz zur V 2 war die V 1 eine als Waffe entwickelte Flugbombe, die im Juni 1944 erstmals zum Einsatz kam. Die V 2 folgte im September 1944, nachdem bereits im Februar die Serienproduktion angelaufen war. Die von Hitler und seinem Propagandaminister Goebbels glorifizierten »Wunderwaffen« sind als V-Waffen in die deutsche Geschichte eingegangen. Sie sollten Vergeltung für die im Juli 1943 begonnene alliierte Luftoffensive üben. Für die Raketeningenieure um Wernher von Braun war die Arbeit für das Heereswaffenamt lediglich ein Umweg, um ihre ehrgeizigen Pläne für die Erforschung des Weltraums zu verwirklichen. Nur das Militär, das sich für die Entwicklung neuer Waffen interessierte, hatte die für die Raketenforschung notwendigen finanziellen Mittel.
 
So bildete das »Aggregat 4« nicht nur die Basis für die moderne Weltraumfahrt, sondern ging auch als Vergeltungswaffe V 2 in die Geschichte ein, die Tausenden Zivilisten das Leben kostete.
 
 
Im Versailler Vertrag von 1919, der einen Schlusspunkt unter den Ersten Weltkrieg setzte, musste Deutschland seine Kriegsschuld anerkennen. Neben der Abtretung einiger Gebiete sowie umfangreichen Reparationszahlungen war Deutschland von nun an auch in Rüstungsangelegenheiten starken Einschränkungen unterworfen. Auf der Suche nach Waffen, die nicht den Bestimmungen des Versailler Vertrags unterlagen, stieß man auf neue Entwicklungen in der Raketentechnik, die sich auch mit der Verwendung von Raketen als Waffen beschäftigten. Im Jahre 1929 griff das Heereswaffenamt diese Möglichkeit auf. Der Artillerieschießplatz in Kummersdorf West (in der Nähe von Berlin) wurde als Versuchsgelände auserkoren und mit Raketenprüfständen ausgestattet.
 
 Erste Schritte - das Aggregat 1
 
Bevor es den Ingenieuren um Wernher von Braun gelang, die erste Großrakete zu entwickeln, musste die Raketentechnik, die zum damaligen Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen steckte, weiterentwickelt und verbessert werden.
 
Galt das Interesse am Anfang sowohl Pulver- als auch Flüssigkeitsraketen, so konzentrierte man sich später auf Flüssigkeitsraketen, weil diese eine größere Reichweite versprachen. Zu den Angestellten des Heereswaffenamtes gehörte in dieser Zeit bereits der spätere Chef der Raketenentwicklung in Peenemünde, Walter Dornberger; im Oktober 1932 kam Wernher von Braun als erster Zivilangestellter des Heereswaffenamtes hinzu. Als »Sachbearbeiter für Flüssigkeitsraketen« entwickelte von Braun zusammen mit Walter Dornberger und Walter Riedel eine für 300 Kilogramm Schub ausgelegte Flüssigkeitsbrennkammer aus Duraluminium. Der von einem Gemisch aus 75-prozentigem Alkohol und flüssigem Sauerstoff angetriebene Raketenmotor sollte am 21. Dezember 1932 zum ersten Mal getestet werden, doch eine Explosion kurz nach der Zündung zerstörte vorerst die Hoffnungen der Ingenieure.
 
Die Entwicklungen wurden jedoch weiter vorangetrieben und die Brennkammer so weit verbessert, dass man dazu übergehen konnte, die erste Flüssigkeitsrakete zu entwerfen. 1933 wurde das Aggregat 1 fertig gestellt, eine 1,40 m lange Rakete mit einem Gewicht von 150 kg. Man behielt den aus 75-prozentigem Alkohol und flüssigem Sauerstoff bestehenden Brennstoff bei und stabilisierte die Rakete mittels eines auf Kugeln laufenden Schwungrads in der Spitze. Der Erfolg stellte sich jedoch auch diesmal nicht ein. Aufgrund einer Zündverzögerung explodierte die A 1-Rakete noch auf der Startrampe.
 
 Erfolge und Enttäuschungen
 
Bei der Entwicklung und dem Bau einer neuen Rakete, dem Aggregat 2, wurden unter der Federführung von Wernher von Braun maßgebliche Verbesserungen durchgeführt. Man verlegte den Sauerstoffbehälter und brachte das Schwungrad in der Mitte an, um so die Rakete nicht zu kopflastig werden zu lassen - ein Problem, das man bei der ersten Rakete im Nachhinein erkannt hatte und jetzt vermeiden wollte. Gebaut wurden letztendlich zwei Raketen vom Typ A 2, die die Namen »Max« und »Moritz« trugen. Ein Start in Kummersdorf West kam diesmal aufgrund des begrenzten Platzangebots nicht infrage. Man verlegte daher den Startplatz auf die Nordseeinsel Borkum, wo die beiden A 2-Raketen im Dezember 1934 über 2 000 m stiegen und damit als erste Flüssigkeitsraketen diese Höhe erreichten.
 
Der Erfolg bescherte dem inzwischen promovierten Wernher von Braun den Durchbruch in der Raketenentwicklung. In der Folgezeit widmete sich das stetig anwachsende Team um von Braun der Entwicklung einer neuen, größeren Rakete, dem Aggregat 3, einer Versuchsrakete, die, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, mit einer zuverlässigen Lenkung ausgestattet, die Ära zielgerichteter Großraketen einleiten sollte. Aus militärischer Sicht erfüllte die Rakete ohnehin nicht die Erwartungen, da sie keine Nutzlast tragen konnte und damit als Waffe nicht zu gebrauchen war.
 
Das Aggregat 3 war 1936 flugbereit, doch ein Start auf dem Testgelände in Kummersdorf West kam wiederum nicht infrage, sodass sich das Team erneut nach einem geeigneten Startplatz umsehen musste. Finanzielle Probleme hatten bis zu diesem Zeitpunkt einen kompletten Ortswechsel verhindert, da die Militärführung keineswegs von den Raketenversuchen und der Anwendung der Rakete als Waffe überzeugt war. Nach den spektakulären Erfolgen und aufgrund der unermüdlichen Werbung Dornbergers und von Brauns bei den zuständigen Stellen legten sich jedoch die anfänglichen Zweifel und die notwendigen Gelder wurden bewilligt. Auf der Suche nach einer langfristigen Lösung des Platzproblems machte die Mutter von Wernher von Braun ihn auf Peenemünde aufmerksam, ein menschenleeres Gebiet auf der Ostseeinsel Usedom, wo sein Großvater früher Enten gejagt hatte.
 
In kurzer Zeit wurden auf Usedom die notwendigen Gebäude und Versuchsanlagen sowie die erforderliche Infrastruktur errichtet, bevor im Mai 1937 die ersten Angestellten ihre Arbeit in der »Heeresversuchsanstalt Peenemünde« aufnehmen konnten. Da sich neben dem Heer auch die Luftwaffe an der Finanzierung des Geländekomplexes beteiligte, entstanden zwei getrennte Bereiche, die als Peenemünde Ost (Heer) und Peenemünde West (Luftwaffe) bekannt wurden. Zum Zeitpunkt des geplanten Starts der A 3-Rakete waren die notwendigen Anlagen in Peenemünde noch nicht fertig gestellt, sodass der Startplatz auf eine Insel in der Nähe Usedoms verlegt werden musste. Mit einem Startgewicht von 750 kg und 1,5 t Schub sollte das erste Aggregat 3 am 4. Dezember 1937 abheben. Die 7,6 m hohe Rakete war mit Stabilisierungsflächen und Strahlrudern ausgerüstet, womit bei den unterschiedlichen Geschwindigkeiten eine stabile Fluglage sowie - wenn erforderlich - eine Korrektur der Flugbahn gewährleistet werden sollte. Der Start verlief nur wenige Sekunden nach Plan, bis sich ein Fallschirm öffnete und die Rakete zum Absturz brachte. Auch die nachfolgenden drei Starts endeten mit einem Desaster.
 
 Vorbereitungen für die erste Großrakete
 
Während die Luftwaffe in Peenemünde West sich auf die Forschung und Entwicklung strahlgetriebener Flugzeuge konzentrierte, feilte man in Peenemünde Ost weiter an der Entwicklung funktionsfähiger Großraketen.
 
Bereits im März 1936 gab es Überlegungen für eine Großrakete, das Aggregat 4, das Lasten über größere Entfernungen tragen konnte. Eine Versuchsrakete wie das Aggregat 3, bei dem man auf den Transport von Nutzlasten verzichtet hatte, war in den Augen der politischen und militärischen Führung unbrauchbar. Die Bereitstellung finanzieller Mittel war jedoch von der Entwicklung einer als Waffe einsetzbaren Rakete abhängig. Die Ergebnisse der Versuche mit der A 3-Rakete sollten bei dem parallel in Vorbereitung befindlichen Aggregat 4 verwendet werden; der Misserfolg der A 3-Rakete erforderte jedoch eine weitere Überarbeitung der Technik und damit eine neue, kleinere Versuchsrakete.
 
Unter der militärischen Leitung von Walter Dornberger und der technischen Leitung von Wernher von Braun arbeiteten zahlreiche Wissenschaftler und Experten an der Umsetzung neuer Erkenntnisse bezüglich Aerodynamik, Stabilität und Lenkung, die man unter anderem bei aufwändigen Tests im Windkanal gewann. So entstand das Aggregat 5, eine 900 kg schwere und 1,5 t schubstarke Rakete, die außer dem Triebwerk fast nichts mit ihrem Vorgänger gemein hatte. Eine verbesserte Aerodynamik und größere Strahlruder sollten diesmal erfolgreiche Versuche gewährleisten. Bereits 1938 verliefen erste Versuche mit ungesteuerten A 5-Raketen nach Plan, im Oktober 1939 erreichten zwei A 5-Raketen eine Höhe von über 8 000 m und bestätigten damit den eingeschlagenen Weg. Experimente und Tests mit A 5-Raketen wurden bis ins Jahr 1942 durchgeführt, um die Entwicklung des Aggregats 4 zu unterstützen.
 
 Technischer Erfolg und A 4-Konzentrationslager
 
Obwohl das Projekt im Lauf der Zeit konkrete Formen annahm, traten erhebliche Probleme bei der Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel auf. Wurde die Heeresversuchsanstalt Peenemünde noch 1938 von Generalfeldmarschall von Brauchitsch auf die Dringlichkeitsliste gesetzt, um den enormen Bedarf an finanziellen und personellen Ressourcen zu gewährleisten, so revidierte Adolf Hitler diesen Schritt im März 1940 wieder, war er doch keineswegs von der Einsatzfähigkeit einer Großrakete überzeugt. Nur mit großer Mühe gelang es Walter Dornberger, bei den zuständigen Stellen für das Projekt zu werben. Schließlich befürwortete Hitler im August 1941 den Bau des Aggregats 4, wenn auch Peenemünde weiterhin nicht auf der Dringlichkeitsliste des Heeres erschien.
 
Mit dem Aggregat 4 sollte die erste Großrakete entstehen, die Lasten - und damit Sprengladungen - über weite Entfernungen tragen konnte. Um eine Nutzlast von einer Tonne 250 km weit zu tragen, war eine Schubkraft von 25 t nötig - ein gewaltiger Wert für die damaligen Verhältnisse, obwohl der Prüfstand VII in Peenemünde, von dem aus das Aggregat 4 gestartet werden sollte, für eine Schubkraft von 100 t ausgelegt war. Die ersten drei Versuche mit der A 4-Rakete in den Monaten März bis August 1942 schlugen fehl: Während die erste Rakete bereits kurz nach der Zündung explodierte, stieg die zweite auf eine Höhe von 5 000 m, bevor sie wieder zu Boden stürzte, die dritte erreichte immerhin die doppelte Schallgeschwindigkeit, ehe sie explodierte.
 
Im Oktober 1942 erfolgte der vierte Start, der zur Erleichterung aller Beteiligten ohne Probleme verlief. Die Rakete erreichte eine Geschwindigkeit von Mach 5,4 (1 500 m pro Sekunde), stieg auf eine Höhe von 90 km und legte eine Entfernung von etwa 200 km zurück. Damit war der Durchbruch erzielt. Nach weiteren Testflügen ging man dazu über, sich Gedanken um eine Serienfertigung zu machen. Der ehrgeizige Plan des Leiters des »Sonderausschusses A 4«, Gerhard Degenkolb, sah bis Ende 1943 eine Produktion von über 3 000 A 4-Raketen vor, ein gigantisches Vorhaben, ohne dass Peenemünde wieder auf die Dringlichkeitsliste des Heeres gesetzt worden war. Erst im Sommer 1943 konnten Dornberger und von Braun Hitler von den Möglichkeiten des A 4 überzeugen. Dieser zeigte sich von den Ausführungen über die neue »Wunderwaffe« derart beeindruckt, dass er schließlich für ihre Entwicklung die höchste Dringlichkeitsstufe ansetzte.
 
Aufgrund eines Bombenangriffs auf Peenemünde im August 1943 musste jedoch die Serienproduktion in die Produktionsstätte »Mittelwerk« verlegt werden, ein Tunnelsystem unter dem Kohnsteinberg in Nordhausen. Aus der A 4-Produktionstätte wurde ein »A4-Konzentrationslager«, in dem 40 000 Häftlinge und Zwangsarbeiter, zusammengepfercht auf engstem Raum und schlecht ernährt, das angestrebte Produktionsziel zu erfüllen hatten, streng bewacht von deutschen Aufsehern und Ingenieuren. Im Februar 1944 verließen die Ersten von insgesamt 5 789 A 4-Raketen die Fertigungsstätte.
 
 Vergeltungswaffen - nationalsozialistische Propaganda
 
Mit dem von Wernher von Braun und seinen Mitarbeitern entwickelten Aggregat 4 erhielt die deutsche Militärführung unter Hitler eine Waffe mit für damalige Verhältnisse ungeheurer Zerstörungskraft. Neben der von den Fieseler Flugzeugwerken in Kassel entwickelten Fi-103, einer düsengetriebenen Flugbombe, wurde sie von Goebbels und seinen Mitstreitern aus propagandistischen Gründen als »Wunderwaffe« bezeichnet. Bei beiden handelte es sich um unbemannte Waffen, die dafür gedacht waren, mit ihrer hochexplosiven Fracht feindliche Städte und Einrichtungen zu zerstören.
 
Die Fi-103 erhielt schon kurz nach ihrem Einsatz im Juni 1944 auf London den Namen V 1, wobei das »V« für das Wort »Vergeltung« stand. Die von Reichspropagandaminister Goebbels gewählte Bezeichnung stand für die Vergeltung der am 24. Juli 1944 begonnenen Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Großstädte. Im Gegensatz zum Aggregat 4, das wenig später unter dem Namen V 2 berüchtigt wurde, handelte es sich bei der Fi-103 nicht um eine Rakete und daher auch nicht - wie fälschlicherweise oft angenommen wird - um den Vorgänger der von Wernher von Braun entwickelten A 4-Rakete. Während die V 1 von vornherein als Waffe konzipiert und entwickelt wurde, sollte die V 2 in den Augen Wernher von Brauns und vieler seiner Mitarbeiter den Durchbruch in der Weltraumfahrt bringen. Neben seiner Eignung als Waffe war das Aggregat 4 die erste Großrakete, deren Flugbahn teilweise außerhalb der Erdatmosphäre lag und die damit als Vorläufer der späteren Weltraumraketen gelten kann.
 
 Einsatz der V 1
 
Die mit einem Strahltriebwerk ausgerüstete, luftgespeiste Flugbombe V 1 erreichte eine Reichweite von etwa 300 km und besaß ein Gewicht von 2,2 t, wovon ein Großteil auf den mitgeführten Sprengstoff entfiel. Die V 1 konnte die Atmosphäre nicht verlassen. Den neben dem Brennstoff Treiböl notwendigen Sauerstoff für die Verbrennung entnahm sie der Luft und erreichte so eine maximale Höhe von 3 000 m. Produziert wurden insgesamt etwa 32 000 V 1. Bis zum September 1944 wurden von Frankreich aus über 10 000 V 1 in Richtung London gestartet, von denen etwa 3 200 britisches Gebiet, davon rd. 2 400 ihren Zielort London erreichten. Der Rest explodierte kurz nach dem Abschuss oder wurde durch Verteidigungseinrichtungen frühzeitig zerstört. Nachdem die alliierten Streitkräfte immer weiter vorgerückt waren, musste die Bombardierung aufgrund der begrenzten Reichweite der V 1 am 1. September 1944 eingestellt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Bombenhagel über London 6 000 Todesopfer gefordert und gewaltige Verwüstungen angerichtet. Die V 1 blieb bis kurz vor Kriegsende im Einsatz. Die Ziele von etwa 12 000 V 1-Bomben lagen nun in Belgien, v. a. waren es die Städte Antwerpen und Lüttich.
 
 Die V 2 - Waffe statt Weltraumfahrzeug
 
Obwohl im Frühjahr 1943 die Entwicklungsphase abgeschlossen wurde und bei Testflügen zum ersten Mal eine Rakete eine Entfernung von 290 km zurückgelegt hatte, war vor allem die mangelnde Zuverlässigkeit des Aggregats 4 ein schwacher Punkt. Bei den vom Heeresoberkommando angesetzten Starts im polnischen Blizna folgte ein Fehlschlag auf den anderen. Die Zeit drängte jedoch, auch der Chef der Waffen-SS, Heinrich Himmler, war auf Peenemünde aufmerksam geworden und setzte sich für die Serienproduktion der A 4-Rakete ein.
 
Am 8. September 1944 kam das Aggregat 4, besser bekannt unter dem Namen V 2, zum ersten Mal zum Einsatz. Nur sieben Tage nachdem die Bombardierung mit der V 1-Bombe ausgesetzt werden musste, wurde London erneut zum Ziel einer deutschen »Wunderwaffe«. Über 1 000 V 2-Raketen erreichten die britische Insel und töteten fast 3 000 Menschen, Tausende wurden verwundet. Diesmal dauerte der Beschuss bis in den März 1945, bevor der Vormarsch der alliierten Truppen eine weitere Bombardierung Londons unmöglich machte. Weitere 2 100 V 2-Raketen fielen auf die belgischen Städte Antwerpen, Lüttich und Brüssel, wobei ebenfalls Tausende von Zivilisten ums Leben kamen.
 
Als die Rote Armee im Mai 1945 in Peenemünde eintraf, war von der Geburtsstätte der ersten Großrakete nicht mehr viel übrig geblieben. Bereits im Januar 1945 hatte man mit der Evakuierung und der Zerstörung aller nicht transportablen Anlagen begonnen. Die Kapitulation Deutschlands setzte auch der Geschichte der deutschen Raketenentwicklung ein Ende. Während die DDR-Volksmarine Peenemünde im geteilten Deutschland als Heimathafen der Flottenbasis Ost nutzte, wurde nach der deutschen Einheit auf Betreiben regionaler Initiativen im Mai 1991 das »Historisch-Technische Informationszentrum Peenemünde« eröffnet, in dem die Geschichte des Militärstandorts dargestellt wird.
 
 Heiligt der Zweck die Mittel?
 
Zu den am meisten umstrittenen Figuren der deutschen Raketenentwicklung zählt ohne Zweifel Wernher von Braun. Er entwickelte die erste Großrakete und legte damit den Grundstein für die spätere Erforschung des Weltraums. Gleichzeitig gab er den Nationalsozialisten eine tödliche Waffe in die Hand, die Tausenden das Leben kosten sollte. Wie jeder Raketeningenieur in Deutschland, der ehemaligen Sowjetunion oder den USA war er für die Verwirklichung seines großen Ziels, die bemannte Raumfahrt, auf die Unterstützung des Militärs angewiesen. Dass er wie seine Kollegen den Pakt mit der militärischen Führung einging in der Hoffnung, dass seine Entwicklungen niemals für militärische Zwecke eingesetzt werden würden, mag naiv gewesen sein, der Gefahr war er sich jedoch jederzeit bewusst. Moralische Einwände standen jedoch hinter dem Ehrgeiz zurück, die Menschheit zu den Sternen zu führen, auch als die Serienproduktion anlief und KZ-Häftlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten mussten. Genau wie Walter Dornberger kannte auch von Braun die Zustände, unter denen gearbeitet wurde. Ein Eingreifen hätte jedoch nicht nur die Entwicklungsanstrengungen in Peenemünde gefährdet, sondern auch das eigene Leben. Im März 1944 wurden von Braun und zwei weitere führende Mitarbeiter von Heinrich Himmler unter dem Verdacht der Sabotage festgenommen mit der Begründung, sie hätten »geheimen Gedanken der Weltraumfahrt nachgehangen und infolgedessen nicht ihre ganze Energie und Kraft für die Fertigstellung der A 4 als Waffe eingesetzt«. Nur durch den Einsatz Walter Dornbergers kamen alle Männer wieder auf freien Fuß, gegen den Einsatz des A 4 als Waffe konnten sie nichts unternehmen. Als die ersten V 2-Raketen auf London fielen, soll von Braun geäußert haben: »Das hätte nie geschehen sollen. .. Wir haben diese Rakete gebaut, um das Tor zu anderen Welten zu öffnen, nicht um Verwüstungen auf dieser Erde anzurichten.«
 
Als die alliierten Truppen immer weiter vorrückten und die Kapitulation Deutschlands nur noch eine Frage der Zeit war, wurden von Braun und weitere wichtige Mitarbeiter von der SS nach Oberammergau beordert. Während eine Gruppe SS-Männer die Gefangennahme der Wissenschaftler durch amerikanische Truppen auf jeden Fall verhindern sollte, hatten sich diese längst entschlossen, sich den Amerikanern auszuliefern. Sie wollten in den USA ihre Pläne von der Erschließung des Weltraumes fortsetzen. Nach anfänglichem Misstrauen seitens der Amerikaner traten von Braun und viele seiner Mitarbeiter, darunter auch Walter Dornberger, ihre Reise in die USA an, um dort ihre Arbeit weiterzuführen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 100 der von amerikanischen Truppen im Mittelwerk erbeuteten A 4-Raketen in die USA verschifft worden. Andere Spezialisten aus Peenemünde wurden von der UdSSR mehr oder minder freiwillig angeworben.
 
In den Vereinigten Staaten konnte von Braun seinen Traum schließlich verwirklichen. Unter seiner Mitwirkung entstand die Redstone-Rakete, mit der im Rahmen des Mercury-Programms erstmals ein Amerikaner in den Weltraum flog. Die von Wernher von Braun entwickelten Saturn-Raketen wurden für das Apollo-Projekt eingesetzt und ermöglichten die erste Mondlandung in der Geschichte der Menschheit. Noch in Peenemünde hatte man an einer Weiterentwicklung des Aggregats 4 gearbeitet. In Planung war unter anderem eine zweistufige A 9/A 10-Rakete, die vonseiten des Militärs für den Beschuss amerikanischer Städte vorgesehen war, die aber für Wernher von Braun den Entwurf des ersten Überschall-Raketenflugzeugs darstellte. Weitere Entwürfe bezogen sich auf Raketen mit gewaltiger Schubkraft, die Menschen in den Weltraum befördern konnten.
 
Wernher von Brauns Leistungen für die zivile Raumfahrt von einem neutralen Standpunkt aus zu betrachten, fällt angesichts der verheerenden Wirkung der V 2 während des Zweiten Weltkriegs schwer. Tatsache bleibt, dass die späteren Raketenentwicklungen in den USA und der Sowjetunion zu einem großen Teil auf der Forschungsarbeit von ihm und seinen Mitarbeitern aufbauten, die mit der Entwicklung der A 4-Rakete das Zeitalter der Großraketen eingeläutet hatten.

Universal-Lexikon. 2012.

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